Ein Interview mit Lutz Seiler
Ein Interview mit Lutz Seiler

Ein Interview mit Lutz Seiler

Im Sommer 2023 besuchte Lutz Seiler als 36. Bamberger Poetikprofessor die Universität Bamberg, um unter dem Titel „Spaziergänge im Niemandsland“ vier Poetikvorträge zu halten. Lutz Seiler widmete sich zu Beginn seiner Karriere dem Schreiben von Lyrik, bevor er auch essayistische Werke sowie Erzählungen und Romane verfasste – und das mit beachtlichen Erfolgen: So erhielt er beispielsweise im Jahr 2014 den Deutschen Buchpreis für sein Romandebüt Kruso. Erst kürzlich wurde er zudem mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis 2023 ausgezeichnet.

Im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur durften wir Lutz Seiler einige Fragen zu seinen Poetikvorträgen, seinem Schaffen, aber auch – passend zu unserer aktuellsten Heftausgabe – zu Möglichkeiten des Eskapismus stellen.

Rezensöhnchen: Lieber Herr Seiler, wir freuen uns, dass Sie uns in diesem Jahr als Poetikprofessor in Bamberg besucht haben, um in Ihren Vorträgen über „Spaziergänge im Niemandsland“ zu sprechen. Können Sie uns ein wenig darüber erzählen, wie dieser Titel zustande kam und wie Sie bei der Konzeption der vier Vorträge vorgegangen sind?

Lutz Seiler: „Spaziergänge ins Niemandsland“ war spontan der richtige Titel, weil er wiedergibt, wie ratlos ich im ersten Moment war, als die Anfrage aus Bamberg kam – und weil er zugleich ein bisschen Leichtigkeit suggeriert. „Spaziergänge ins Niemandsland“ also mehr als eine Haltung, mit der ein (vielleicht nur in mir selbst zu überwindender) Anspruch unterlaufen und der großen Poetik ihre „Strenge“ genommen wird. Eine Haltung auch, die es erlaubt, offen zu bleiben für das Unerwartete beim Lesen der eigenen Texte oder der Anschauung dessen, was ich bisher so gemacht habe beim Schreiben und im Leben. Es ging mir sicher auch darum, von vornherein mit der Vorstellung zu brechen, dass ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin immer schon genau weiß, was er oder sie macht beim Schreiben. Ich glaube, jede Poetik ist nachgetragen. Beim Schreiben mache ich genau das, was ich machen muss und kann – der Ausgangspunkt bleibt weitgehend unsichtbar und schwer genauer zu benennen. In der Vorlesung habe ich dann ja auch versucht, diese Unbedingtheit des Schreibens zu umreißen.

Davon abgesehen, sind in die vier Vorlesungen natürlich meine Schreiberfahrungen eingeflossen und bestimmte Überzeugungen, die einen begleiten beim Schreiben. Dabei hab ich versucht, von verschiedenen Bereichen zu erzählen: Die erste Vorlesung war der „Utopie des Gedichts“ gewidmet, in der zweiten ging es um den Einfluss von Musik (Pink Floyd), in der dritten um ein Zeitschriftenprojekt der neunziger Jahre („moosbrand“ hieß das Heft) und am Ende um eine sehr spezielle Thematik (der Hund im Gedicht). Es war großartig, wie interessiert sich die Bamberger an diesen doch ziemlich speziellen Sachen zeigten und überraschend, wie ausgesprochen gut besucht die Vorlesung war. Am Ende hatte ich ein paar Dinge besser verstanden, die meine Arbeit betreffen.

Wie sieht Ihr allgemeiner Schaffensprozess aus? Inwiefern unterscheidet sich Ihre Herangehensweise beim Schreiben von Lyrik davon, wie Sie Erzählungen oder Romane, wie Stern 111 oder Kruso, schreiben?

Lange Zeit erschienen mir die Gedichte als das unter allen Umständen interessantere, spannendere Genre – deshalb bin ich erst ziemlich spät und über einige Zwischenschritte wie das Schreiben von Essays und Erzählungen zum Roman gekommen. Prosa und Lyrik, das sind zwei verschiedene Arten, in der Welt zu sein, verbunden mit ganz eigenen Bewusstseinszuständen. Ich glaube, es gibt ein Leben hin zum Gedicht und eines hin zum Erzählen. Das Gedicht braucht etwas, das ich einmal eine „konzentrierte Form von Abwesenheit“ genannt habe, Zustände, die es einem erlauben, an den üblichen Kausalitäten vorbei auf ein starkes Bild zuzugreifen. Das heißt andere, „diffuse“ Wahrnehmungszustände, die zu einem anderen Daseinszustand gehören, in den man sich einleben kann. Die Prosa hingegen braucht viel Anwesenheit und Klarheit – und Disziplin. Das Lauschen auf gesprochene Sprache, Dialoge, die Beobachtung von Details, das Nachdenken über Struktur und Dramaturgie, Arbeitspläne und Techniken der Organisation von 500 Seiten Manuskript usw. Für beide Textsorten, und das ist eine Art Gemeinsamkeit, ist das Ohr das Leitorgan: Ich überarbeite, das heißt ich spreche den Text so lange, bis ich hören kann, dass er „stimmt“, im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei geht es zuerst weniger um Inhalte, mehr um eine bestimmte Klangfolge, die ich erreichen möchte und von daher um einen Rhythmus. Aus Klang und Rhythmus entsteht eine Syntax, die ein bestimmtes Vokabular aufruft und ein anderes aussortiert. Dazu endlose Überarbeitungen, endlose Zweifel. Inzwischen ist mir die Prosa nicht weniger wichtig als das Gedicht, aber die Gedichte sind bis heute der Heimathafen.

Unsere aktuelle Heftausgabe steht unter dem Leitthema „Eskapismus“ und auch diese „Spaziergänge im Niemandsland“ klingen, als könnten sie zum Eskapismus einladen. Welches Eskapismus-Potenzial bietet das Schreiben bzw. die Literatur generell Ihrer Meinung nach?

Das Schreiben ist ein einsames Geschäft. Vielleicht kann das nur funktionieren, wenn der- oder diejenige kein Problem damit hat, allein zu sein, oder besser noch, sich wohlfühlt damit. Die Literatur selbst besteht zu großen Teilen aus genau diesem Thema. Ein Mensch ist allein – und was geschieht dann? Liebe, Verzweiflung, Familie, Trennung etc.

Am Ende unseres aktuellen Hefts steht unser persönlicher Eskapismus im Vordergrund. Deshalb auch an Sie die Frage: Wohin flüchten Sie sich am liebsten?

Mein Schreibort ist Stockholm. Wider Erwarten konnte ich dort von Anfang an das Gefühl haben, „weg“ zu sein, entfernt von Dingen, die im äußeren Leben dafür sorgen können, sich unfrei zu fühlen. Inzwischen ist Stockholm mein zweites Zuhause, ich kann hier gut arbeiten, meine Romane sind hier entstanden. Ich hab es nicht weit bis ans Meer und kann dort laufen, baden oder im Café sitzen.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Lutz Seiler für die Beantwortung unserer Fragen und für die spannenden Poetikvorträge in Bamberg, die von der Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung (Prof. Dr. Christoph Jürgensen und Dr. Julia Ingold) organisiert wurden.

Das Interview wurde geführt von Celine Buschbeck und Alicia Fuchs.

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